Macht der Unentschlossenheit

Unentschlossenheit wirkt oft harmlos. Sie klingt nach „abwarten, nochmal prüfen, nichts überstürzen“. Doch wer sie erlebt, sei es als Bürger:in in einer Gesellschaft, als Mitarbeiter:in in einem Unternehmen oder als Führungskraft, spürt schnell ihre lähmende Wirkung. Entscheidungen bleiben aus, Routinen brechen weg, Orientierung schwindet. In Zeiten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Unruhe kann die Unentschlossenheit von Regierungen oder Unternehmensleitungen fatale Folgen haben: Menschen verharren, Projekte werden verzögert, Chancen vertan.

Heimtückische Tugend der Vorsicht

Unentschlossenheit ist nicht einfach nur das „Fehlen einer Entscheidung“, sie entfaltet psychologisch wie organisatorisch eine eigene Dynamik. Menschen verschieben wiederholt Entscheidungen, um der Verantwortung oder möglichen Bedauern entgehen zu können, doch genau dieses Hin- und Herschieben bindet mentale Energie und führt langfristig zu chronischer Überforderung (vgl. Han, Quadflieg, Ludwig 2023). 

Entscheidungslehre beschreibt „decision avoidance“ als häufige Strategie, die zwar kurzfristig Stress reduziert, langfristig aber die Handlungsfähigkeit untergräbt (Janis, Mann, 1977). Die neuere Forschung rekonstruiert, dass der kurzfristige “Gewinn” durch Vermeidung oft in erhöhtem Entscheidungsdruck und Reue umschlägt: verzögerte Entscheidungen erzeugen nicht nur kumulierte Unsicherheit, sie verschieben auch notwendige Anpassungsprozesse (vgl. Anderson, 2006). 

Organisationspsychologie betont, dass Klarheit – auch über eine falsche Entscheidung – in komplexen Systemen oft hilfreicher ist als das Warten. Ein falscher Beschluss kann korrigiert werden, eine nie getroffene Entscheidung erzeugt Unsicherheit (vgl. Weick, „Sensemaking“). Insbesondere in dynamischen Umfeldern wirkt Orientierung als Ordnungsanker für Mitarbeitende: Sie erlaubt es, Entscheidungen zu revidieren und Anpassungen vorzunehmen, während das Ausbleiben von Entscheidungen das kollektive Gefühl von Ziellosigkeit verstärkt.

Führungstheoretiker (wie Kotter, 1996) weisen darauf hin, dass Veränderungsprozesse nicht durch „perfekte Planung“ scheitern, sondern durch ausbleibendes Handeln. In der neueren Leadership-Reflexion zeigt sich, dass das Vertrauen in Führungskräfte in Zeiten des Wandels zur zentralen Ressource wird, und dass dieses Vertrauen eben dann besonders untergraben wird, wenn Entscheiden verzögert wird. Unentschlossenheit schwächt die Wahrnehmung von Führung und mindert das Vertrauen in die Organisation. Studien zu „authentic leadership“ belegen, dass Transparenz, Verbindlichkeit und Vertrauen zentrale Mediatoren sind; fehlende Entscheidungsroutinen unterminieren diese Faktoren und lassen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Distanz zur Führung entwickeln (Kleynhans, Heyns, Stander, de Beer, 2022). 

Kurz gesagt: Die Wissenschaft sieht in Unentschlossenheit weniger eine Tugend der Vorsicht, sondern eher eine Gefahr der Orientierungslosigkeit. Sie entzieht Systemen die nötige Energie für Wandel, lässt Innovationspotenzial verkümmern und erzeugt eine Lücke zwischen Absicht und Handlung: eine Lähmung, die oft schlimmer ist als eine falsche Entscheidung.

So lässt sich Zögern in Bewegung verwandeln

Für die Praxis der Führung heißt das:

  1. Entscheidungsräume öffnen. Wenn Unentschlossenheit droht, hilft es, Perspektiven zu erweitern: weitere Stimmen einzubeziehen, Hypothesen durch kleine Experimente zu prüfen, Szenarien abzuwägen, aber immer mit klarer zeitlicher Begrenzung.
  2. Klarheit vor Perfektion. Ein Beschluss, der zu 80 % passt und korrigierbar ist, ist oft wirkungsvoller als kein Beschluss. Die Organisation braucht Richtung.
  3. Transparenz über Unsicherheit. Es ist legitim, zu kommunizieren: „Wir wissen noch nicht alles, aber wir gehen diesen Weg und überprüfen unterwegs.“ Das schafft psychologische Sicherheit.
  4. Verantwortung teilen. Gerade in Krisenzeiten sollten Führungsteams gemeinsam Entscheidungen tragen und nicht auf die lange Bank schieben.

Entschlossenheit als Quelle von Lebendigkeit

Ich selbst bin alles andere als unentschlossen. Im Gegenteil, ich treffe Entscheidungen oft schnell und mutig, manchmal mit dem Kopf durch die Wand. Vor zweieinhalb Jahren habe ich zum Beispiel entschieden, komplett aufs Auto zu verzichten. Seitdem lebe ich im „Experiment Bahn“. Klingt romantisch und ist es manchmal auch. Aber es bedeutet auch, dass ich die Fehler anderer mittrage: ausgefallene Züge, stundenlange Verspätungen, chaotische Gleiswechsel. Meine eigenen Fehler sehen meist so aus, dass ich zu viel Gepäck mitschleppe. Aber egal, ob sieben Stunden Fahrt oder Umstieg mit Koffer-Tetris, auch diese Entscheidung bereue ich nicht, ich kann sie ja mal korrigieren… 

Denn das wirklich Schwere ist nicht das Reisen selbst, sondern das Zögern davor. Jeder Tag länger macht eine Entscheidung schwerer. Getroffene Entscheidungen dagegen geben Freiheit und sei es nur die Freiheit, endlich ein Buch aus dem Rucksack zu holen, wenn die Bahn mal wieder nicht pünktlich ist. Entscheidungen sind wie Züge: Man muss irgendwann einsteigen, sonst fährt der Wagen ab, und mit ihm die Chance auf Bewegung.

epovia. Wandel mit Sinn. Und mit Kurs, auch wenn das Gleis wechselt.